Die Ruhe gestört, den Schlaf verfremdet: Silke Mohrhoffs Schläfer

von Dr. André Dombrowski, Frances Shapiro-Weitzenhoffer Associate
Professor für Europäische Kunst des 19. Jahrhunderts, University of Pennsylvania, History of Art, Philadelphia
Oktober 2021

Ernst Bloch unterschied in seinen Aufsatzsammlungen der frühen 1960er Jahre, Verfremdungen betitelt, zwischen den Konzepten “Entfremdung” und “Verfremdung.” Während “Entfremdung,” das ältere der beiden Worte, besagt, dass etwas zu veräußern ist oder Abstand von etwas oder jemandem genommen wurde, hat “Verfremdung” andere Konnotationen. Als ein Wort der industriellen Revolution (erstmals in den 1840er Jahren benutzt) beschreibt es ein typisches Gefühl der Moderne, ein Sich-mit-der-Welt-nicht-einig-Sein oder das Bewusstsein einer tiefgreifenden Verschiebung und Dislokation des Selbst. Wie von Bloch erläutert, hat Berthold Brecht die Verfremdung zum zentralen Thema des modernen Theaters gemacht und oft von “Verfremdungseffekten” gesprochen, nämlich den theatralen und visuellen Strategien, die das Reale so stark und abrupt verschieben, dass der Theaterbesucher oder Betrachter aus der Routine in eine überhöhte ästhetische Aufmerksamkeit übergeleitet wird.

Silke Mohrhoff ist eine Bildhauerin des Verfremdungseffekts. Ihre Serie der Schläfer—kleinste, modellierte Figuren, manchmal verstümmelt und gefesselt, die in unbequemen Ecken und Kistchen in einen heilenden Schlaf gefallen sind—spielt bewusst mit der Diskrepanz zwischen unserer eigenen körperlichen Verletzlichkeit und unserer Sorge für die Körper anderer. Überall wird gerastet, nirgends findet man offene Augen—wirkliche Ruhe scheint hier eine Unmöglichkeit zu sein, aber der Tiefschlaf tröstet dennoch. Ein derart erhöhtes Schlafbedürfnis spielt deshalb zwangsläufig auf die Krankheiten und die harte Arbeit an, die dem Einnicken vorangegangen zu sein scheinen. Mohrhoff führt uns vor Augen, wie eng die Stille des Schlafens und das Drama des Todes verknüpft sind, denn niemand scheint aus dieser schlafenden Welt je wieder aufzuwachen.

Die Darstellung eines Zwischendaseins, oder Zwischenbewusstseins, zwischen Wachen und Schlafen macht den Betrachter umso gespannter darauf, die ganzen Geschichten der Figuren zu erfahren, die Mohrhoff allerdings nicht preisgibt. So müssen wir nah an andere Wesen herangehen, um Ecken herumschauen und in Kisten gucken. Deckel zu alten Kästchen sind oft verlorengegangen, daher wirken sie jetzt wie alte, kleine, offene Särge. Wir machen uns Sorgen, wollen helfen und wissen, ob noch geatmet wird. Solch voyeuristische Strategien hat sich die Moderne oft eigen gemacht, vielleicht am prominentesten bei Marcel Duchamps Étant donnés (Philadelphia Museum of Art), des wohl berühmtesten, fast real inszenierten Attentat-Schauplatzes des 20. Jahrhunderts. Bei Mohrhoff allerdings bestechen die Schläfer durch Ihre Kleinheit, nicht Ihre Lebensgröße. Als Miniaturen sind sie sowohl durchaus menschlich—kleinste Abbildungen, oft nicht mehr als 15 cm groß, von unseren eigenen alternden Körpern—aber auch gänzlich unmögliche, fantastische Wesen: Embryone oder winzige, nicht bespielbare Puppen, mehr für Erwachsene gedacht als Kinder.

Neben der Miniaturisierung bedient sich Mohrhoff etlicher anderer Verfremdungsstrategien. Obwohl die plastische Kunststoffmasse, mit der sie arbeitet, völlig künstlich ist, legt sie großen Wert auf die Natürlichkeit der Farben, besonders für die Haut. Trotz des Realismus des Hauttons vergisst der Betrachter allerdings nie die letztendliche Härte und Glasigkeit des Materials, das der Haut einen recht keramischen Anschein verleiht. Nah dran am Realen und doch verfremdet. Die Körper der Schlafenden sind nicht nur winzig, sondern oft auch verletzt und verstümmelt und wurden dann behandelt, verbunden und versorgt. Arme und Beine, oder Hände und Füße, sind regelmäßig amputiert worden, und die Schlafposition scheint die einzige körperliche Stellung zu sein, die die Schläfer ohne zusätzliche Hilfe von Krücken oder Geländern selbst meistern können. Und wenn dies nicht schon genug wäre in Sachen körperlicher Einschränkung, verbindet und fesselt Mohrhoff die Figuren noch zusätzlich, knüpft manchmal sogar zwei Figuren zusammen: zwei Schicksale, die miteinander ein und denselben Schlaf zu halten scheinen und sich gegenseitig den Schmerz lindern. Der Schlaf der Schläfer ist also besonders labil, obwohl man sich hier von mehr als nur dem vorherigen Tag zu erholen scheint und eher einem existentiellen, tief heilenden Schlaf verfallen ist.

Auf geschlechtliche Merkmale verzichtet Mohrhoff meist auch: Einige ihrer Figuren sind andeutungsweise weiblich, aber die meisten Ihrer Werke haben nur wenige, manchmal sogar gar keine Anzeichen von Weiblich- oder Männlichkeit. Sie sind eher geschlechtslos oder besser, vorgeschlechtlich. Kleidung ist auch nur wenig vorhanden, und die meisten Schläfer, bis auf die Fesseln, sind nackt anzutreffen. Zugedeckt werden sie auch nicht; die Bettdecke und das Kissen scheinen noch nicht erfunden zu sein oder mussten zurückgelassen werden. Alle Haare sind lang, wallend und ungekämmt—Friseure gibt es noch nicht, oder nicht mehr—und manchmal sind auf dem Kopf der Schläfer auch nur noch ganz wenige einzelne Haare vorhanden. Wir treffen die Figuren der Schläfer im Heute an, werden allerdings den Eindruck nicht los, dass hier nichts alltäglich ist. Wir haben eventuell gerade eine Weltkatastrophe verpasst: Mohrhoffs Schläfer sind post-apokalyptische Wesen, aber auch unsere Verwandten.

Demzufolge sind wir Zeugen einer regelrechten Olympiade des Schlafens. Den Schlaf hat jeden überfallen, dort wo man gerade zuletzt gesessen hat. Bevor die Augen gänzlich geschlossen wurden, haben die Schläfer es noch in die nahgelegensten Schlupfwinkel geschafft, auch wenn diese nicht die bequemsten sind. Köpfe liegen an harten Ecken an, Schultern pressen sich gegen kalte Wände; ein oder zwei der Schläfer sind sogar kopfüber über einer Kante eingeschlafen. Sie wirken gleichermaßen ermüdet wie ermordet. Mohrhoff verleiht Ihren Figuren selten mehr Kontext als die kleine, unprätentiöse Behausung einer alten Kiste oder eines Gipspostaments. Manchmal, wenn Sie nicht direkt auf Holz aufliegen, hat die Künstlerin Ihnen fürsorglich einen kleinen Teppich untergelegt. Trotzdem wirkt hier nichts heimisch oder gar gemütlich. Das Schlafzimmer, als bürgerliche Institution, scheint weit in der Vergangenheit oder noch fern in der Zukunft zu liegen.

Da Mohrhoffs skulpturale Verfremdungseffekte derart visuell perfektionistisch sind, lässt sie die Betrachter über deren Bedeutungsspielraum selbst spekulieren. Es ist dennoch spürbar, dass der Künstlerin eine Geschichts- und Konsumkritik nicht gänzlich fern liegt. Wie Jonathan Crary das in seinem Buch 24/7: Late Capitalism and the Ends of Sleep näher auslegt hat, leben wir in einem Zeitalter des Rund-um-die-Uhr-Konsums, der uns eine ständige Wachsamkeit und Aufmerksamkeit aufzwingt, uns zum endlosen online-Einkaufen einläd. Während des Schlafens, wenn wir außer unseren eigenen Eindrücken des Tages nichts weiter konsumieren, verhalten wir uns besonders unproduktiv, systemstörend und antikapitalistisch. Mohrhoffs Schläfer sind außerdem Wesen, die von Krieg und Furcht gezeichnet sind, vielleicht sogar den Holocaust überlebt haben. Ihre Wunden und Verstümmelungen, sowie ihre Immobilisierung durch Fesseln, zeugen von physischer sowie psychischer Folter, von der sich jetzt schlafend erholt wird. Mohrhoffs Arbeiten stehen somit im Umkreis derjenigen deutschen Nachkriegskunst, die sich eine poetische, evokative Geschichtsverarbeitung zur Aufgabe gemacht hat. An ruhigen, normalen Schlaf, von 23 Uhr abends bis 6 Uhr morgens, ist da nicht zu denken.

 

Trichter zum Eigentlichen 

von Juliane Uhl, 2021

Silke Mohrhoff sieht den Menschen. Seine Zerbrechlichkeit, seine Zartheit und vor allem seine existentiellen Fragen.

Und Silke Mohrhoff findet Sachen. Sie findet Sachen und nimmt sie mit. Sie lagert Materialien und wartet, bis etwas geschieht, bis sie lebendig werden. Dass etwas geschehen wird, spürt sie, wenn sie die Sachen sieht.

Die Materialien sind wichtig, denn sie tragen Lebensspuren, die sich manchmal erst offenbaren, wenn sie Zeit bekommen. Zeit und Beachtung. So wie die Schachteln, die die Künstlerin aus einem Nachlass erhielt. Sie nannte das Schachtelkonvolut „Ilsedore“ und erschuf damit ein vergangenes Leben, das sich durch Begriffe auszeichnet, die einen Menschen charakterisieren. Begriffe, die selten in Trauerreden stattfinden. Wer redet denn nach dem Leben vom Mut, vom Bedürfnis und vom Ersehnen der Verstorbenen. Dabei sind es doch genau diese Begriffe, die einen Menschen ausmachen – viel mehr als ein tabellarischer Lebenslauf.

Einmal hat sie sich vorgenommen, den Schlaf zu erkunden. Sie betrachtete schlafende Menschen „Wir sehen anders aus, wenn wir schlafen“ sagt die Künstlerin, die in Bremen lebt und arbeitet. Die Schläfer, kleine Püppchen, die sie in Folge ihrer Beobachtungen erschuf, wirken friedlich. Doch sie verängstigen auch, vielleicht, weil sie keine richtigen Körper haben, oder weil sie aussehen, als wären sie tot.

Wenn Menschen in Mohrhoffs Atelier kommen, schrecken sie manchmal zurück, können sich die Arbeiten nicht ansehen, halten es kaum aus. Erst im Gespräch öffnen sie sich der Kunst und der Künstlerin. Persönliche Geschichten und Schicksale finden ihren Weg nach draußen, angestoßen durch eine kleine Puppe. Silke Mohrhoff erspürt die Tiefen des Daseins und weiß etwas zu erschaffen, dass genau diese Tiefe in den Menschen berührt. Nicht jeder ist bereit dafür. Doch wer sich traut, greift ein Stück nach sich selbst.

 

Love me

von Carla Johanna Frese, 2020

Love me – eine Aufforderung, eine Bitte, eine Sehnsucht. Die Skulpturen von Silke Mohrhoff sprechen uns mit dem Titel direkt an. Wir sollen sie lieben! Aber wie können wir diese Geschöpfe lieben, die uns da entgegenblicken? Denn das was uns da so sehnsuchtsvoll anspricht sind nicht etwa süße Tierbabys, nein, es sind Nackttiere!

Nackttiere wirken meist erst einmal fremd, ja vielleicht sogar abstoßend auf uns. Mit ihrer scheinbar schutzlosen Hülle erwecken sie Abscheu, Mitleid oder aber auch das Bedürfnis ihnen einen Schutzort zu geben. Dabei sind die Tiere von Silke Mohrhoff gar nicht unbedingt schutzbedürftig.

Die erste Serie der Nackttiere besteht aus Vögeln – kleine Küken, frisch geschlüpft und noch voll von den Elterntieren abhängig. Mit ihren großen oft noch nicht fertig entwickelten Augen starren sie uns an; die Schnäbel offen und nach Nahrung schreiend. Die kleinen Wesen sind der Inbegriff der Schutzlosig- und Abhängigkeit. Kommt das Elterntier nicht mehr wieder oder fallen sie aus dem Nest, dann ist ihnen der Tod Gewiss. Die Haltung einiger Vögel ist gebeugt, manche scheinen vornüber gekippt zu sein, da sie selber den Körper noch nicht unter Kontrolle haben. Andere stehen selbstbewusst mit der Siegessicherheit des Lebens.

Die zweite Serie führt uns unter die Erde und steht im krassen Gegensatz zu den nackten Vogelküken: Seit einigen Jahren arbeitet Silke Mohrhoff an Nacktmullen. Nacktmulle sind kleine Nagetiere, die unterirdisch in Ostafrika leben und eine auffällig gefaltete haarlose Haut und sehr große Schneidezähne haben. Sie sind sicherlich nicht die schönsten Tiere, aber für die Wissenschaft sehr interessant: Sie werden für ihre Größe sehr alt – bei einer Größe von 15cm werden sie ca. 30 Jahre alt, haben ein sehr gutes Immunsystem und sind resistent gegen viele Krankheiten wie Diabetes oder Krebs. Das Gehirn und das Herz können lange ohne Sauerstoff auskommen, ohne dass das Säugetier Schaden nimmt. Außerdem leben sie wie Bienen in einer Kolonie in einer klaren matriarchale Gesellschaftsstruktur. So hässlich wie diese Tiere rein äußerlich sind, umso genialer sind sie auch. Sie vereinen eigentlich alles, was wir Menschen uns oft so sehnlichst wünschen: Ein langes Leben, stabile Gesundheit und eine absolut solidarische Gesellschaft. Gerade dieser Gegensatz macht die Tiere so spannend und damit sind sie es absolut Wert von Silke Mohrhoff als Skulpturen porträtiert zu werden. Die Nacktmulle stehen selbstbewusst da, sind absolut eigenständig, sie brauchen keinen Schutz und auch keine Hilfe – außer vielleicht diejenigen die von der Künstlerin mit einer ihren vielen Hautfalten an die Wand genagelt wurden…

Silke Mohrhoff schafft mit ihrer „Love me“ Serie Tiere, die uns alle auf irgendeiner Art und Weise berühren – sei es, weil wir sie abstoßend finden oder fasziniert von ihnen sind. Gemeinsam ist ihnen und auch anderen Werken von Silke Mohrhoff, dass sie unser Inneres ansprechen, unsere Empathie herausfordern. Sie werfen uns auf uns selbst zurück – erinnern uns an unsere eigene Verletzlichkeit, unsere eigene Sterblichkeit, zeigen uns auch aber auch die Genialität des Lebens auf, die wir oft erst auf den zweiten Blick erkennen.

 

Die Sonne sinkt

Frank Laukötter über die Schläfer von Silke Mohrhoff 
August 2016

Was ist das, der Mensch? Eine Marionette, schrieb Platon. Eine Maschine, La Mettrie. Ein nicht festgestelltes Tier, Nietzsche. Eine zufällige Produktion der Evolution, Darwin. Eine Hausbewohnerin oder ein Hausbewohner, die oder der nicht über ihr oder sein Haus regiert, Freud. Eine zerbrochene Puppe, mit Augen, die ins Innere gefallen sind, Cioran, einen Geisteskranken ins Feld führend, dessen Introspektion schwerer wöge als alle Bücher über Introspektion. Was ist das, der Mensch?

Diese Frage zu beantworten, schrieben Vertreterinnen und Vertreter dieser und jener Disziplin Texte um Texte, und Künstlerinnen und Künstler schufen Bilder um Bilder des Menschen. Letztere immer, fast immer mit der Wiedergabe von offenen Augen, denn ihr hauptsächlicher Sinn ist ihr Sehsinn. Siehe Leonardos Mona Lisa, seine Proportionsstudie nach Vitruv oder sein Johannes der Täufer. In der Kunst gibt es, so scheint es, einen impliziten Imperativ. Was von uns angeblickt wird, das blickt uns an.

Schläfer wie die von Silke Mohrhoff sind da eine seltene Ausnahme. Ihre Augenpaare sind geschlossen. Wie vermutlich die des Träumenden in Goyas Der Traum der Vernunft gebiert Monster. Wie die der Frau in Füsslis Nachtmahr. Oder wie die des Mannes in Fritschs Mann und Maus. Die Schläfer, die von uns angeblickt werden, sie blicken uns nicht an. Ihre Augenpaare öffnen uns kein Seelenfenster in sie hinein. Was sie sehen, das sehen wir in sie hinein. Empathie. Sie beseelen uns, wir beseelen sie.

Weil wir aus lauter Ichs bestehen, wird das nicht deckungsgleich sein. Was der Verfasser schreibt, ist das, was der Verfasser schreibt. Die Leserinnen und Leser mögen sich ihren Teil denken, womöglich vollkommen deckungsungleich.

Eine jüngere, weibliche Figur schläft (Abb. 1). Eine ältere, männliche Figur auch (Abb. 8). Sie ruht in einem Stuhl, im Hintergrund ist ein Fenster zu sehen, Blaus, Gelbs und Grüns sowie ein paar Sonnenflecken leuchten auf. Er ruht in einem hölzernen Kästchen, das wie ein Schrein von goldfarbenen Metall eingefasst ist. Sie und er sind eingehüllt in einen Kokon aus Fäden. Der Kokon ist eine wärmende Hülle, ein Schutzmantel, ein Zeichen für die Verpuppung bzw. die Verwandlung vom hellwachen Bewusstsein tagsüber zum wachen Unterbewusstsein nachtsüber. Träumen sie? Was träumen sie?

„Wenn wir wachen, so haben wir eine gemeinschaftliche Welt; schlafen wir aber, so hat ein jeder seine eigene.“ (Kant)

Träumen sie? Was träumen sie? Diese spekulative Empathie ist dem Faktum geschuldet, dass die Figuren so veristisch wirken, echt, lebensecht, echter als lebensecht.

Eine solche Auffassung von Skulptur hat eine lange Geschichte (Meister IPS, Ramos, Susini), die in Vergessenheit geriet (Winkelmann), die aber in den letzten Jahren und Jahrzehnten wiederentdeckt worden ist (de Andrea, Duchamp, Hanson, McCarthy, Mueck). Ein Schlüsselwerk in der Kunsthistorik, den Verismus zu rehabilitieren, war Petite danseuse de 14 ans von Degas von 1881. Sie war modelliert in Wachs und sie trug, um den Effekt der Lebensechtheit zu erhöhen, ein Tutu aus echtem Stoff.

In diese Geschichte gehören die veristischen Figuren von Mohrhoff. Degas ist, was nicht nur die Form und das Material, sondern auch das Format betrifft, eine eigene Bezugsgröße. Seine kleine Tänzerin ist unterlebensgroß, 98 cm groß. Die Figuren von Mohrhoff sind ebenso unterlebensgroß. Ja, sie sind noch kleiner, um ein Zehntel kleiner. Sie misst 9,5 cm, er 9 cm. Umso kleiner, umso verletzlicher.

Sie sind kleiner als ein Neugeborenes. Embryonen. Sie als eine Heranwachsende, er als ein Alternder.

Was für sie und für ihn gilt, das gilt, von kleineren Abweichungen im Format abgesehen, auch für die anderen Schläfer und auch für die Darstellungen der Venus (Abb. 4/5) mit ihren geschlossenen Augen. Ausnahmen sind u. a. M. R. und C. G. (Abb. 12. und 15). Beide Werke sind mit 52 und 70 cm Höhe zum einen wesentlich größer als die beiden beschrieben Schläfer, wenngleich ebenso unterlebensgroß, und sie sind zum anderen in den Augenpartien auf andere Art wiedergegeben. Die Augen von M. R. sind offen, im Verhältnis zum Gesicht überaus groß, hoch- statt querformatig und schwarz, die Augen sind kolossale ovale Pupillen. Bei C. G. hingegen ist die Physiognomie abstrahiert. Mund, Nase, linkes und rechtes Auge sind an-, nicht aber durchmodelliert. Stattdessen liegt ein Blutschwamm auf dem Gesicht. Das Blutrot ist auch auf der Hasenkapuze zu sehen, auf dem Oberkörper und dem Sockel mit den fehlenden Füßen. M. R. und C. G. haben keine Arme. Die Figuren sind fragmentiert. Auch die beschriebenen Schläfer sind fragmentiert. Der Verismus der Plastiken von Mohrhoff ist ein gebrochener Verismus. Die Verletzlichkeit ihrer Bilder des Menschen ist ein Zeichen für die Verletzlichkeit des Menschen.

Für Freud war der Mensch, Frau und Mann, eine Hausbewohnerin oder ein Hausbewohner, die oder der nicht über ihr oder sein Haus regiert. Eine Menge Figuren der Künstlerin sind in Gehäusen situiert. Mal um Mal sind diese Gehäuse die Kokons um die Kokons von Fäden um die Figuren herum. Sie sind einerseits eine Schutzhülle, andererseits ein Gefängnis. Wer wacht, ist wehrhaft. Wer träumt, ist wehrlos, gefangen in den Träumen.

„die Sonne sinkt“, ist der Titel dieses Katalog, ein Zitat aus einer von Nietzsches Dionysos-Dithyramben, „gen Abend geht’s“, die Schläfer vom Mohrhoff gehen schlafen. Sie träumen. Ihre Nachtträume sind unsere Tagträume über ihre Nachtträume. Nietzsche schrieb Also sprach Zarathustra. Die letzten Zeilen dieses Werkes sind, dass er, Zarathustra, „seine Höhle [verliess], glühend und stark, wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt.“ Diese Höhle ist die Platonische Höhle. Lässt sie sich, wie von Nietzsche gewünscht, verlassen? Oder lässt sie sich nicht verlassen? Wie beantworten die Figuren von Mohrhoff diese Frage?

 

Robert Wilhelm H.

„…und manchmal verstrickt in den Widerspruch zwischen persönlichem Bedürfnis und gesellschaftlicher Norm – verdichtet in dem stilisierten Wohnzimmer, dessen offensive Spießigkeit nur Täuschung ist, denn die wie zufällig arrangierten Fotoalben entpuppen sich als sorgsam geführte Sammlung softpornografischer Abbildungen muskulöser Männer, während die liebevoll bestickten Kissen bei genauem Hinsehen die ganze Brutalität der Verfolgung schwuler Männer im Zeichen des Paragraphen 175 dokumentieren….“

Zitat aus der Eröffnungsrede: „Frauen sehen Männer“ 2014 in Bremerhaven
von Michael Frost, Kulturdezernent Bremerhaven.

 

Sich Sammeln

von Dr. André Dombrowski, Frances Shapiro-Weitzenhoffer Associate,
Professor für Europäische Kunst des 19. Jahrhunderts, University of Pennsylvania, History of Art, Philadelphia
März 2013

Silke Mohrhoff ist Bildhauerin, obwohl Bilder bei ihr selten “gehauen” werden. Steinmeisseln oder Metallgiessen sind für sie viel zu traditionelle Macharten der Skulptur. Ihre Objekte kommen viel eher dem Holzarbeiten gleich, oder dem Gipsmodellieren, und gewinnen diesen so prosaisch anmutenden Tätigkeiten, die ja sonst oft etwas Grobes und Unbeholfenes haben, eine neue Poetik und sogar Würde ab. Dennoch ist sie nicht Installateurin, schafft keine Installationen, deren Gebilde ganz in der Ausstellung aufgehen und so schnell wieder verschwinden, wie sie entstanden sind. Silke Mohrhoffs Skulpturen nehmen ganz willentlich die Schnittstelle zwischen Objekt und Situation ein: Sie schafft konkrete Objekte, die bestehen bleiben und sogar manchmal auf’s Podest gestellt werden, die aber gleichzeitig von einer bestechenden Leichtigkeit, Fragilität und Vergänglichkeit zeugen, und somit immer auch auf ein prekäres, fast wunderhaftes Dasein verweisen. Mohrhoff schafft daher meisst kleinere Formate—Objekte, die oft gut in der Hand liegen, bevor man sie wieder abstellt, und die nie zu schwer zum Heben sind.

Silke Mohrhoff sammelt, damit fängt alles an, aber selbst das Wort umschreibt nur einen Teil ihres komplexen Vorhabens. Sie stellt die Welt neu zusammen, kombiniert die unmöglichsten Materialien und verbindet verschiedenste Dinge (von gestern und heute), um durch solche, oft überraschenden Gegenüberstellungen den Dingen, der Geschichte und dem Alltag gleichermassen neue Bedeutungen abzugewinnen. Das, was sie sammelt, kann beides künstlich und natürlich sein, da macht sie keinen grossen Unterschied. So geht sie auf der einen Seite mit offenen Augen durch den Alltag (was hier Flohmarkt, Kramladen, Dachboden oder Keller heissen will) und richtet ihre Aufmerksamkeit auf die Dinge, die sich dort versammelt und vermehrt haben, die oft früher gang und gebe waren, aber jetzt niemand mehr möchte. Auf der anderen Seite ist sie auch oft draussen anzutreffen, wo ihr Blick oftmals auf die interessanten Merkwürdigkeiten und skurrilen Formbildungen der Natur fällt, auf Äste, Holzstücke, Zapfen, Blätter oder Runkeln, denen die Natur etwas Einmaliges verliehen hat.

All dies wird in Silke Mohrhoffs Atelier versammelt und ausgebreitet, studiert und betrachtet. Sie informiert sich über ehemalige Alltagspraktiken, an die sich heute kaum noch jemand erinnert. Dabei fällt es dem Betrachter von Mohrhoffs Objekten schnell auf, dass das was sie sammelt oft handgemacht ist, oder mit den traditionell-weiblichen Handarbeiten zu tun hat, wie Häkeln zum Beispiel. Damit, woran so viele andere Künstler derzeit die Geschichte an sich zu fassen glauben—anhand obsoleter Technik und deren Apparaten (alten Telefone, Schreibmaschinen, Fax-Geräte und dergleichen)—hält sich Mohrhoff erst gar nicht auf. Zu unpersönlich, würde sie wohl einräumen. Sie konzentriert sich eher auf solche Dinge und Materialien, in den oftmals unsere intimsten und persönlichsten Erinnerungen erweckt werden: Sachen aus der Kindheit, Spielzeug, Puppen, Fotos, Taschentücher mit Monogrammen und so weiter. Es interessieren sie die Dinge des Alltags, in denen sich das Ich schlechthin konkretisiert, das Selbst sich am ehesten wiedererkennt, wenn es in der eigenen Vergangenheit schwelgt.

Hierzu lassen sich viele Beispiele in Mohrhoffs Praxis anführen: Sie lässt Porträtaufnahmen auf alten weissen Taschentüchern schweben, als hätte sich das Gesicht, da sich mit ihnen mal die Nase abgeputzt hat, dort für immer mit eingebügelt, ähnlich dem Schweisstuch der heiligen Veronika. Eine ihrer ersten Arbeiten waren Reihen von Runkeln, die immer schöner und skurriler wurden, je länger sie einfach nur in der Ausstellungshalle herumstanden, stumme Zeugen einer natürlichen Zeit und eines natürlichen Vergehens, die sich in die Mitte des so zeitlosen Museums eingenistet hatten. Mohrhoff schnitzt aus Holzblöcken junge Mädchen in duftigen und leichten Sommerkleidern, die ihrer hölzernen Natur trotzen und voller Leben und Momenthaftigkeit stecken. Sie füllt alte Schachteln mit allerlei merkwürdigen Dingen und Beschriftungen, als entstünde hier ein Archiv, von dem keiner ganz genau weiss, was es genau archiviert oder wessen Leben es summieren soll. “Ilsedore” ist die Person—ein Name, der selbst mit historischer und romantischer Patina überzogen scheint—die diese kleinen Sammlungen beleuchten sollen, aber ausser dem was die Schachteln selbst mitsichbringen, erfahren wir nichts über Ilsedore selbst. Sie geht gänzlich in den Materialien und Dingen auf, die ihr mal gehört zu haben scheinen.

Jüngstens hat Silke Mohrhoff eine Serie von Superhelden angefangen, kleine figürliche Skulpturen, oftmals ungeschlechtlich, die sich merkwürdig tarnen oder gar blind und deformiert sind und absurde Waffen mit sich schleppen: kleine Plastik-Dinosaurier als Waffen zum Beispiel. An diesen Arbeiten ist Mohrhoffs sensible Umgangsart mit Dingen und Materialien vielleicht am deutlichsten nachvollziehbar: Hier werden Ton und Gips mit typischem Kleinkram der heutigen Konsumkultur vermischt, so dass Handarbeit, Kunst und Spielzeug alle neue Bedeutungen gewinnen und alle gleichermassen die Möglichkeit haben, kulturelle Typen und Vorbilder zu schaffen.

Mohrhoff ist also keinesfalls ein neuer Duchamp. Bei ihr wird zwar auch vieles den Dingen und dem Material selbst überlassen, aber durch ihre neuen und überraschenden Kombinationen werden die alltäglichen Bedeutungen der Materialien auch schnell überschritten, wenn nicht gar überwunden. Wie gesagt fasziniert sie ohnehin Dinge und Materialien mit Geschichte, die benutzt worden sind, etwas veraltet oder vergilbt sind. Skulptur als Kategorie ist daher bei ihr nie ausserhalb der Geschichte anzutreffen, sondern mittendrin, direkt am Geschichtsprozess aktiv teilnehmend. Es scheint fast so, als hätte die Umwelt und die Geschichte bei ihren Skulpturen schon eine gewisse und spannende Vorarbeit für sie (und uns) geleistet.

In diesem Sinne ist Mohrhoffs Skulptur eindeutig an zentralen Kulturprozessen interessiert, wenn nicht gar beteiligt. Wie im Alltag selbst, zeichnet sie in ihren Werken nach, wie sich kulturelle Typen und Vorbilder herausbilden, welche Rolle Fabelwesen, Traumgestalten und die Fantasie schlechthin spielen, wenn wir von unserer persönlichen Kollektiv-Geschichte berichten. Dabei werden beim Betrachter viele Schichten der Interpretation eröffnet: Geschlechterproblematiken werden immer wieder thematisiert, da manchmal Mann und Frau ganz eindeutig, fast überzogen, vor uns stehen, manchmal aber auch Objekte, bei denen wir nur ahnen können, um welches Geschlecht es sich handeln soll. Selbstverständlich durchdringt Mohrhoffs Werk eine starke, obwohl oft nur indirekte, Kultur- und Konsumkritik. Bei ihr wird vieles erstmal wiederverwertet bevor es neu gekauft wird. Dies will aber nicht heissen, dass Silke Mohrhoffs Objekte von gestern sind. Ganz im Gegenteil. Sie zeigen uns, wieviel sorgfältiger und fantasievoller wir mit dem Alten, dem Gestern, im Heute umgehen könnten.